21 Januar 2006

auf dem Förderband

Ich beobachtete sie genau, hatte schliesslich Zeit, musste warten, darauf, dass ich an die Reihe käme. Vor mir standen etwa fünf Leidensgenossen, alle eingedeckt mit Lebensmitteln, Beauty Accessoires, Kleidern oder was sie auch sonst immer hatten finden können in den verwinkelten Regalen des Einkaufsparadieses. Ich balancierte sämtliche Zutaten einer Pizza in meinen Armen, weil ich wieder vergessen hatte eines dieser grünen Körbchen am Eingang mitzunehmen. Sehnsüchtig wartete ich darauf endlich meine Waren aufs Förderband zu legen und diesen Ort der farbenprächtigen Depression zu verlassen.

Sie ging routiniert vor, griff sich einen Artikel, scannte den Stichcode, liess ihn in die Auffangbecken am Ende der Kasse rutschen und griff sich dann den Nächsten, bis sie künstlich lächelte, den Gesamtbetrag nannte, um dann mit steinerner Miene von Vorne anzufangen. Stundenlang Arm nach rechts, nach links, Lächeln. Sie tat mir Leid, eingesperrt in ihrer Pflicht Geld zu verdienen, musste sie sich der Wiederholung aussetzen und keiner nahm sie war, niemand bedankte sich von Herzen bei ihr, dass sie ihm ermöglichte Waren einfach so mitzunehmen, im Tausch gegen ein paar Scheine, Münzen oder Bits ohne jeglichen Wert.

Ersetzbar war sie; möglicherweise irgendwann durch eine Maschine, ohne Gesicht, Gefühle, Motivation. Reine Funktionalität, keine Pausen oder Fehler, höchstens ein paar Ausfälle, Systemabstürze oder ähnliche Spielereien. Ich hatte Lust ihr meine Anerkennung zukommen zu lassen, zu zeigen, wie sehr ich es schätzte von einem Menschen bedient zu werden, einem Lebewesen mit einer Geschichte, Erlebnissen und Ansichten. Vielleicht könnte sie mir ja Tipps geben, wie ich den Rand meiner Pizza luftiger backen könnte, wenn sie meine Einkäufe sieht, eins und eins zusammenzählt, mein Vorhaben erkennt. Möglicherweise wäre sie auch bereit Witze zu machen, einfach so, weil sie morgens mit jemandem gemütlich Frühstück hatte, der Tag gut begann.

Stattdessen die immergleiche Bewegung, maximales Tempo, ständige Beobachtung und Anforderung von Filialleiter und Kunden. Ich bewunderte, wie sie so ruhig bleiben konnte, stellte mich Amok laufend vor, Tote im Supermarkt, rotes Blut auf farbigen Etiketten, Köpfe, die auf dem Förderband ihrer Identifizierung entgegen rollen. Realität wäre ich an ihrer Stelle.

Endlich konnte ich mich meiner Last erledigen, bald würde ich dran sein. Ein Mann vor mir in Anzug und Krawatte kaufte gross ein. Brot, Teigwaren, Fertigsaucen, Fleisch, Salami, darunter Kondome, Wein und Bier, konnte ich ausmachen. Er bezahlte mit seiner Visakarte, während er telefonierte.

Sie lächelte mich an, sechzehn dreissig bitte. Ich gab ihr zwanzig, erhielt das Wechselgeld, packte meine Sachen in eine der dünnen Plastiktüten und ging. Draussen hatte ich ihr Gesicht bereits wieder vergessen. Ich glaube sie war blond gewesen, nächstes Mal werde ich mich besser achten müssen, denke ich, wieder einmal.

19 Januar 2006

geklaut

Das war es also, mein Leben. Nicht schlecht eigentlich, habe mich nie beklagt. Jahrelang irgendwie über Wasser gehalten, Gelegenheitsjobs, Erniedrigungen, Mindestlöhne, Frauen getroffen, wieder verlassen, rastlos, ein Geist. Unfähig mich anzupassen, nieder zu lassen, alleine unter Tausenden von Menschen. Nie habe ich mich geöffnet, jemanden in mein Vertrauen gezogen. Ich brauchte meine Freiheit. Niemand sollte mich behindern, beeinflussen, mich kennen.

Rücksicht zu nehmen bedeutet Verzicht. Aufgeben seiner Ideale für Kompromisse. Zwischenlösungen, die beide Parteien befriedigen sollen, damit sie sich weiterhin in die Augen sehen können, sich achten. Regeln, die sie entwickelt haben, ohne darüber nachzudenken. Wurde als Egoist bezeichnet, beschimpft, beneidet. Ich konnte aufstehen, gehen, niemals wiederkehren, eine neue Identität annehmen. Kinder zeugen, die niemals ihren Vater kennen würden.

Ich bin stolz darauf, keine Verpflichtungen eingegangen zu sein. Immer unterwegs, niemandem Rechenschaft schuldig, habe ich die Welt gesehen. Kulturen kennen gelernt. Mich ausgetauscht, mitgeteilt. Niemals eine Arbeit erlernt trotzdem meinen Teil beigetragen. Es ging mir nie um Karriere. Unverstanden in einer harmonischen Welt der Regel, Verordnungen, Steuern.

Und jetzt liege ich hier, in einem Bett, das ich nie zuvor gesehen habe, niemals drin gelegen bin. Eine Frau und ihr Mann stehen am Bettrand, sehen mich an. Ich bin zu schwach ihren Blick zu erwidern. Unerwartet wurde ich zurückgerufen, mitten auf meiner Reise zu einer Pause gezwungen. Zusammengebrochen, unfähig wieder aufzustehen, auf der Strasse liegend, den Verkehr fühlend, ohne zu sehen, wie er an mir vorbei zog, in einem Tempo, das ich niemals wieder erreichen würde.

Irgendwann hatte jemand angehalten, mich mitgenommen, eingeladen. Aus Mitleid, Verpflichtung, Schuldgefühlen, ich wusste es nicht. Versuchte mich zu erheben, selbst zu stehen, nicht abhängig zu sein und wurde schwächer. Erinnere mich kaum noch an die Hinfahrt, daran, wie sie mir eine Suppe bereitete, während er über mein Lager wachte. Ein Felsen, nicht zu verschieben, erst recht nicht mit Blicken, die er nicht zu deuten wusste, die ich nicht zu senden vermochte.

War ich Ihnen zur Dankbarkeit verpflichtet? Hätten sie mich nicht gerettet, wäre ich elendig im Strassengraben verreckt, wie ein angefahrener Elch, Reh, oder eine ähnliche Kreatur? Gestorben um als Gulasch zu enden? So lange gekocht, bis auch die zäheste Masse weich, verzehrungswürdig wird. Er sah mich an, kannte mich und sämtliche Antworten, war sich seiner sicher, hatte den richtigen Weg gewählt und war in Würde und Zufriedenheit alt geworden.

Auch ich kannte ihn. Heirat mit zweiundzwanzig, Bausparvertrag mit fünfundzwanzig, Kinder mit achtundzwanzig, Rente mit fünfundsechzig. Ein Leben in Zahlen zusammengefasst. Arbeit, Alkohol, Sex, Derrick jeden Dienstagnachmittag. Das immergleiche Essen derselben Frau, die nie wagte sich zu entfalten, aus Angst alles würde zerbrechen.

Sie flösste mir Hühnerbrühe aus echtem Huhn ein, er lächelte Wohlwollend, hatte schon so manche Grippe dank ihrer Pflege überstanden, kannte ihre Hausmittel, freute sich, dass sie auch andern halfen, war stolz auf sie. Liebte sie oder hatte sich daran gewöhnt. Ein Leben in der Rückblende, zusammengefasst in der Gegenwart, eine Situation, ohne Worte, mehr Inhalt als jedes Buch. Blicke, Berührungen oder deren Abwesenheit, zeichneten ein klares Bild. Harmonie.

LASST MICH IN RUHE!

Jede Faser meines Körpers sträubte sich, lag ich falsch? Hatte ich mich ein Leben lang geirrt? Auf einmal beneidete ich diese Vorstadtgartenzwerge, Falschwähler und Unwichtigtuer. Was hatten sie, das mir versperrt blieb. Weshalb konnten sie glücklich werden, obwohl sie kaum lebten, keine Gedanken darüber machten, was es bedeutet eine Persönlichkeit zu haben.

Die Flucht ins Nichts der Masse als einzige Möglichkeit mit sich ins Reine zu kommen? Zu abstrus, undenkbar für mich und doch wahr, bewiesen hier in diesem Haus, das ich nicht kannte, von Menschen, die ich nie zuvor gesehen hatte und mir doch mehr bedeuteten als ich mir selbst je zuvor. Mein Leben.