der Videorecorder
Meine Geschichte ist unglaublich, so unglaublich, dass ich sie kaum selber glauben kann. Angefangen hat sie vor ziemlich genau zwanzig Jahren. Damals war ich achtzehn und wohnte zu Hause. Das war mitten in den achtziger Jahren, dieser kitschig, verschwommenen Nachdiskozeit. Rückblickend eine einzige Katastrophe, aber damals ganz in Ordnung. Immerhin hatten wir bereits super Hightech Geräte, wie zum Beispiel den CD-Spieler und denVideorecorder, mein persönlicher Favorit. Ich hatte lange gespart, um mir endlich einen kaufen zu können. Doch schon nach einem Jahr, genau eine Woche nach Ende der Garantie, zerstörte er die Bänder statt sie ab- oder überzuspielen.
Genervt schraubte ich das Gerät auseinander, basteln war schon immer eine meiner Leidenschaften gewesen, und machte mich unfachkundig an die Innereien der schwarzen Kiste. Jede Menge Elektroschrot und Zahnräder waren da drin und ich hatte natürlich keine Ahnung, wo in diesem Gewirr ein Fehler stecken könnte. Trotzdem packte ich sämtliches Werkzeug zusammen, das ich im Chaos meines Zimmers verstreut auftreiben konnte und schraubte hoch motiviert drauf los.
Nach einer guten Stunde hatte ich das Gefühl den Fehler gefunden zu haben, setzte alles wieder zusammen, schob eine ohnehin wertlose Kassette in den Schlitz und drückte Play, das Schlimmste erwartend. Aber nichts passierte, kein ruhiges Surren oder unheimliches Reissen. Jetzt hatte ich das Gerät komplett zerstört, dachte ich.
Enttäuscht und genervt schmiss ich das Gerät hin, ging in die Küche, um was zu Essen, damals stand ich total auf Frühstücksflocken. Meine Mutter sass bereits am Küchentisch, die Zeitung lesend. Das war ihre Lieblingspose, wir hatten drei Tageszeitungen abonniert. Ich ignorierte sie, holte mir Milch und Frosties, setzte mich ihr gegenüber und begann schweigend zu essen. Sie wirkte wie versteinert, blätterte nicht einmal um.
„Interessanter Artikel?“, versuchte ich ein wenig Bewegung in den Raum zu bringen.
Keine Antwort.
„Alles okay, Mutter?“
Immer noch keine Reaktion.
Ich stand auf, ging zu ihr hin und berührte sie an der Schulter. Diese war unglaublich hart und leblos, wie Plastik. War meine Mutter zur Schaufensterpuppe geworden? Absurd, trotzdem bedrohlich. Ich bewegte mich ein paar Schritte zurück, stolperte über ein Hindernis am Boden und fiel der Länge nach hin. Ich war über unseren Pudel gestolpert, der wie eine Statue dastand, seinen nervigen Quietschknochen im Maul.
Die Szene wurde langsam unangenehm, panisch rappelte ich mich auf, rannte aus der Küche, aus dem Haus auf die Strasse. Das Bild war ähnlich, Autos schienen mitten auf der Strasse stehen geblieben zu sein. Der Hula Hup Reifen meiner Schwester schwebte mitten in der Luft, während ihr Körper sich verkrümmt an ihn schmiegte. Ich war der Einzige, der sich zu bewegen schien. Alle um mich herum waren stehen geblieben. Irgendwas stimmte nicht, soviel war mir klar.
Stundenlang oder Minutenlang, meine Uhr war auch stehen geblieben, lief ich in meinem Viertel herum, beobachtete die teilweise unmenschlich aussehenden Posen und Mimiken der leblosen Lebendigen, stille Jogger, Skater, Küssende und Ähnliches. Ich widerstand der Versuchung Passantinnen unter den Rock zu schauen, vielleicht hatte ich auch Angst. Trotzdem genoss ich die Ruhe, so etwas hatte ich noch erlebt, leider.
Nachdem ich mich an diesen Ausnahmezustand gewöhnt hatte, zog ich mich in mein Zimmer zurück, um nachzudenken. So sehr mir dieser surreale Ausflug gefallen hatte, wusste ich doch, dass ich wieder in die lebendige Welt zurückkehren wollte. Bloss wie? Ich wusste nicht einmal wie ich überhaupt in diesen Zustand geraten war, alles was ich gemacht hatte, war an meinem Videogerät rumzuschrauben. Hatte das gerät etwas damit zu tun? Ich drückte auf die Stopp-Taste. Sofort hörte ich wieder vertraute Strassengeräusche, unseren Hund bellen und sah im Garten meine Schwester den Ring um ihre Hüften kreisen.
Unglaublich, ich hatte einen Zeitstopper erfunden. Ich drückte auf den Play Knopf und wieder war es totenstill um mich. Ich hatte den Zeitstopper erfunden!
Seit diesem Tag hatte sich mein Leben verändert. Die zeit war mir egal, wenn ich Urlaub brauchte, Musik hören wollte, einen Film sehen, dann hielt ich die Zeit an und genoss das Leben. Ich war immer entspannt, zufrieden meisterte den härtesten Alltag problemlos. Immer öfters zog ich mich zurück in meine Welt des Augenblicks, niemanden weihte ich ein, ich hatte mein persönliches Refugium.
Nach zehn Jahren verbrachte ich mehr Zeit dort als in der realen Welt und erst dann wurden mir die Folgen dieser Sorglosigkeit bewusst, dabei war es absolut logisch. Wenn ich mich in den Zeitlosen Raum zurückzog, tickte meine innere Uhr weiter, unaufhaltsam, während die meiner Mitmenschen stehen blieb. Mit dreissig sah ich aus wie fünfzig und ich fühlte mich auch so, hatte bereits so viel mehr erlebt als meine Mitmenschen.
Ich war süchtig nach meiner Welt und diese Sucht forderte ihren Tribut, jede Stunde ohne Zeit, raubte mir reelle Lebenskraft. Jetzt bin ich knapp vierzig und ein alter Mann. Ärzte untersuchen mich, in der Hoffnung mir helfen zu können, aber sie haben keine Ahnung, was wirklich passiert. Ich habe abgeschlossen mit dem Leben. Bald werde ich die Zeit für immer anhalten und im zeitlosen Raum sterben. Ich weiss noch nicht, was das für meine Mitmenschen bedeutet, da ich ja nie mehr den Stopp Knopf werde drücken können. Wird mein Leichnam in der Unendlichkeit meiner Zeit verrotten und nie wieder auftauchen?