im auto
Wieder war die Ampel rot. Wie jeden Morgen. Wieder fragte er sich, ob es überhaupt jemals vorgekommen war, dass er direkt hatte durchfahren können. Jeden Tag, zweimal eine halbe Stunde Weg. Immer der gleiche. Er hatte bereits versucht Variation einzubringen, ging bei Muttenz von der Auobahn, fuhr kleine Strassen durch Dörfer, war erst nach 50 Minuten in Olten. Und auch noch unbezahlt, die langweiligste Stunde des Tages ein Stück seiner Freizeit. Fünfunsvierzigstundenwoche, mindestens.
Endlich grün. Motoren starteten, zig Tonnn Blech und ein paar hundert Kilo Fleisch sezten sich in Bewegung. Und dann wieder rot. Zwei Wagen vor ihm. Wieder steckt er fest. Aber eigentlich kam es gar nicht drauf an, er wusste sowieso, was ihn erwarten würde kannte alle Abzweigungen, die er passieren würde, hatte bereits alle Schilder gelesen, konnte jederzeit sagen, wie weit Zürich oder Bern noch entfernt waren, ja manchmal erkannte er sogar Wagen wieder, die ihn öfters auf der Autobahn überholten. Kam es dann darauf an, ob er jetzt fest sass oder nicht?
Selbst wenn er früher ankäme, auch da wusste er was ihn erwarten würde, die immer gleichen Arbeitskollegen, Sprüche, die niemand lustig fand, darum lachten alle. Kaffe aus dem Automaten ohne Geschmack. Sein Arbeitsplatz. Der Schreibtisch aus schwarz lackiertem Holz, Ikeastandart. Pause von viertel vor neun bis neun, von zwölf bis eins und dann am Nachmittag von halb vier bis viertel vor vier, oder vier, wenn der Chef nicht da war. Der Rauch hastig gerauchte Zigaretten in den Aufenthaltsäumen schwebend. Menschen, die anriefen, von ihm erwarteten, dass er sich freundlich gab. Und das tat er auch. Er war der langjährigste Mitarbeiter.
Plötzlich ein Aufschrei, eine Kinderstimme überschlug sich, der Klang von Tränen und Trotz. Ein Mann rief verärgert. Seine Stimme hörte sich nach Prügel, Sadismus, Besserwisserei an. Dann rannte das Kind quer über die Strasse, Reifen quietschten, Fahrer hupten, weil niemand ihr Fluchen hören konnte. Der Mann, langbeinig, sprintete hinterher, packte den Verfolgten, kaum hatte er den Bürgerseig erreicht, umschlang ihn mit breiten Armen, die Tritte des unkontrolliert umsichschlagenden Opfers ignorierend und trug ihn fluchend zurück.
Da schaltete die Ampel auf Grün, es musste weiter gefahren werden. Niemand schenkte der Szenerie beachtung, nicht mein Leben. Auch er fuhr weiter, aus einem Automatismus heraus. Doch sein Bewusstsein nahm die Strasse kaum war. Was, wenn das Kind entführt worden war? Oder misshandelt? War der Mann der Vater gewesen? Vielleicht war er ein Nachbar, der sich dann und wann um das Kind kümmerte, weil die Mutter die meiste Zeit arbeiten musste, ihm Geschenke machte, nett zu ihm war, bis er sich des Vertrauens der Familie sicher war und sich seiner Lust hingeben konnte. Eine gesunder Verstand für immer zerstört, tiefe Gräben gezogen, die sich nicht mehr schliessen liessen. Nie mehr.
Weshalb hatte er nichts unternommen? Er hätte austeigen, auf den Mann zugehen, ihn zur Rede stellen können. Der Mann wäre durchgedreht, hätte ihn angegriffen. Doch er hätte den Angreifer mit einer geschickten Seitwärsbewegung straucheln lassen, ihm die Handkante in den nacken geschlagen und ihn getreten. Schwärze, tiefe Ohnmacht, ein spätes Erwachen in einer Zelle.
Er hätte das Kind zur Mutter gebracht, eine unglaubliche Attraktive Frau, ledig, auf der Suche. Sie wäre ihm unendlich dankbar gewesen, so dankbar, dass er nach zwei Monaten eingezogen wäre. Nach der Heirat hätte ihm der Schwiegervater eine leitende Position in seiner Firma angeboten mit nur zehn Minuten Arbeitsweg. Mit achzig wäre er dann zufrieden gestorben. Seine Frau ein halbes Jahr später.
So schnell kann man eine Chance verpassen, aber immerhin war diesmal die Hinfahrt erstaunlich kurzweilig, dachte er, stieg aus, warf seine Gedanken ab und ging zur Arbeit.
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